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TRANSODRA 18, Oktober
1998, S. 175 - 191
Polnische Beschäftigung mit den Lagern für Deutsche
nach 1945
Wojciech Pieciak, Die unterbrochene
Kindheit des Gerhard Gruschka
Nachdem es in Polen schon fast selbstverständlich
geworden ist, sich mit dem . Thema der Vertreibung der
Deutschen nach 1945 kritisch zu beschäftigen, beginnt .
man jetzt - noch zögernd - sich auch an die Lager für
Deutsche nach Ende des Krieges 1945 zu erinnern. Die
Zeitung "Tygodnik Powszechny" behandelte dieses Thema,
indem sie einen langen Artikel über Gerhard Gruschka
veröffentlichte, dessen Buch über das Lager in Zgoda-
Schwientochlowitz (ehemalige Außenstelle des
Konzentrationslagers Auschwitz) inzwischen auch ins
Polnische übersetzt wurde. Einige Ausgaben vorher
veröffentlichte sie eine Rezension des Buchs von Helga
Hirsch über Deutsche in polnischen Lagern 1944 - 1950,
die allerdings von einem deutschen Korresponden.en in
Warschau verfaßt worden war. (Vielleicht . traute sich
in Polen noch niemand an dieses Thema heran?) Helga
Hirsch beschäftigt sich in ihrem Buch vor allem mit
Bydgoszcz (Bromberg), Potulice (Potulitz) und
Schwientochlowitz (Swietochlowice). Bereits im Dezember
1994 hatte sie in der "Zeit" (Nr. 49, 2.12.94)
Recherchen über das Lager in Schwientochlowitz-Zgoda in
einem Dossier "Die Rache des Kommandanten" (Solomon
Morel) geleistet. Wie sie selbst schreibt, entstand ihr
Interesse an diesem Thema als Reaktion auf die
kontroverse Debatte über die Frage der Veröffentlichung
des Buchs von John Sack "Auge um Auge", das schließlich
vom Verlag eingestampft, . später jedoch von einem
anderen (kleineren) veröffentlich wurde. Bei den
Recherchen für ihr im Januar 1998 erschienenes Buch war
Helga Hirsch in Polen auf große Schwierigkeiten
gestoßen. Jede Akte, die sie (im Staatlichen Archiv in
Warschau) zu sehen bekam, sei vorher vom Archivdirektor
oder seinem Stellvertreter geprüft und dann
unvollständig ausgehändigt worden. Das Vorgehen in den
polnischen Archiven sei nicht von Regeln, sondern von
Willkür geprägt gewesen. Insofern habe sie auch keinen
detaillierten Überblick über sämtliche Lager geben
können, sondern sich auf Erlebnisberichte ihrer Zeugen
gestützt und das Buch bewußt vor allem aus der Sicht
der Betroffenen geschrieben. Der Hauptteil ihres Buches
beschäftigt sich mit dem Lager in Potulitz. In
Potulitz, 20 km westlich von Bromberg gelegen, befand
sich während des Krieges eine Außenstelle des
Konzentrationslagers Stutthof, in dem die SS polnische
Zivilisten, ukrainische und jüdische Kinder interniert
hatte. 1945 hatte der polnische Sicherheitsdienst das
Lager übernommen und dort Deutsche interniert. Am 5.
September 1998 wurde jetzt am Ort des früheren Lagers
in Potulitz eine Gedenktafel angebracht, deren
Inschrift auch an die deutschen Opfer des Lagers
erinnert. 3.500 Deutsche waren in den Jahren 1945 bis
1950 in diesem Lager umgekommen. Stanislaw Gapinski,
Pensionär und Vorsitzender der Polnischen Vereinigung
ehemaliger politischer Gefangener in Nazi-Gefängnissen
und Konzentrationslagern und der pensionierte deutsche
Arzt Gustav Bekker hatten diese Initiative ergriffen
und ein gemeinsames Gedenken polnischer und deutscher
Opfer ermöglicht. "Beide waren sie 9 Jahre alt, als sie
interniert wurden - der eine im Januar 1942, der andere
im Sommer 1946. Beide saßen sie in der Kinderbaracke,
die die Nummer 28 trug. ... Potulice war das letzte
Internierungslager für Deutsche, es wurde 1950
aufgelöst. Hier saßen 35.000, in allen Lagern
zusammengenommen 120.000 Deutsche. Mindestens 20.000
von ihnen dürften umgekommen sein." (Helga Hirsch in
Die Zeit, Nr. 37, 3.9.98) Die private Initiative von
Gustav Bekker und Stanislaw Gapinski stieß auf .
öffentliche Unterstützung - die Wojewodin von Bromberg
nahm an der Gedenkfeier teil.
In der Berliner Zeitung (12./13.9.1998) berichtet H.
Hirsch über ein Gespräch mit Witold Kulesza, seit April
1998 neuer Direktor der "Hauptkommission zur
Untersuchung der Verbrechen am polnischen Volk".
Kulesza habe auf eine Regelung von 1991
zurückgegriffen, nach der die Hauptkommission auch bei
Bürgern nicht polnischer Nationalität tätig werden
kann, wenn Verbrechen auf polnischem Boden begangen
wurden. In sieben Fällen habe die Hauptkommission
Ermittlungen aufgenommen: bei Deutschen, die aus ihrer
schlesischen Heimat vertrieben werden sollten; bei
Mitgliedern der deutschen Minderheit in Polen, die
enteignet, zur Zwangsarbeit verpflichtet und in Lagern
interniert wurden und bei deutschen Kriegsgefangenen,
die auf dem Weg zurück in die Heimat aufgegriffen
worden waren. In zwei Fällen wird wegen Mordes
ermittelt. Die Hauptkommission ist zur Führung von
Prozessen auf die Staatsanwaltschaft angewiesen. Das
Oppelner Wojewodschaftsgericht hat jetzt Zeugenaussagen
von der Staatsanwaltschaft Hagen angefordert, um wegen
jener 48 Todesfälle zu ermitteln, um die es in einem
bereits im Jahre 1977 eingeleiteten Verfahren gegen
Czeslaw Geborski (Kommandant des Lagers in Lamsdorf)
gegangen war.
Sie finden im folgenden den Artikel über Gerhard
Gruschka, den wir aus dem Tygodnik Powszechny übersetzt
haben und fügen für eventuell Interessierte einige
Literaturhinweise zum Thema an.
Literaturverzeichnis:
-
Gerhard Gruschka,
-
Zgoda - Ein Ort des Schreckens,
Neuried 1996 (in polnischer Übersetzung erschien das
Buch von Gruschka im Frühjahr 1998 in einem
Gleiwitzer Verlag)
-
Helga Hirsch,
-
Die Rache der Opfer,
Deutsche in polnischen Lagern 1944-1950, Berlin
1998
-
Die Rache des Kommandanten,
Zeit-Dossier, Die Zeit, Nr. 49, 2.12.1994
-
Rache ist eine Krankheit,
Die Zeit, Nr. 37, 3.9.1998
-
Der Fall von Lamsdorf,
Berliner Zeitung, 12./13.9.1998
-
John Sack,
-
Auge um Auge,
Die Geschichte von Juden, die Rache für den
Holocaust suchten, Hamburg 1995
-
Oko za Oko,
Przemilczania historia Zydow, ktorzy w 1945 mScili
sie na Niemcach, Gliwice 1995
-
Edmund Nowak,
-
Der Schatten von Lambinowice,
Oppeln 1994
-
Cien Lambinowic,
Proba rekonstrukcji dziejow Obozu Pracy w
Lambinowicach 1945-1946, Oppeln 1991
-
Klaus Bachmann,
-
Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den
Gebieten des heutigen Polen im Spiegel der
Geschichtsschreibung und der öffentlichen Meinung in
Polen,
Transodra Nr. 12/13, September 1996 (insbes. S. 51
ff.)
-
Piotr Madajczyk,
-
Przylaczenie Slaska opolskiego do Polski,
1945-1948,
Warszawa 1996
-
Tygodnik Powszechny, 14.7.1996
-
Zygmunt Woznicka,
-
Z gornego Slaska do sowieckich Lagrow,
Kattowitz 1996
[nach oben]
Die unterbrochene Kindheit des Gerhard Gruschka
Wojciech Pieciak, Tygodnik Powszechny, Nr. 17,
26.4.1998
Aus dem Polnischen: Kai Struve
Was kann ein dreijähriges Kind verstehen? Sicher nicht
viel. Es erfaßt die Atmosphäre und Gefühle. Es
empfindet, ob die Welt sicher ist. Auf diese Art
erlebte Gerhard Gruschka zum ersten Mal in seinem Leben
das, was er Jahre später "Vertreibung aus dem Paradies"
nannte.
Zum kindlichen Paradies gehörte ein Löschwasserteich
an der Grenze zum Haus der Gruschkas im Gleiwitzer
Stadtteil Petersdorf. Gerhard, der dort zusammen mit
Kindern aus der Nachbarschaft badete, erschien der
Teich wie ein grenzenloses Meer. Aber am wichtigsten
war die Wohnung. In den Bildern, die Gerhard in
Erinnerung behielt, ist sie groß, sonnig und voller
Schlupfwinkel. Und sie hatte auch ein Bad. Solche
modernen Wohnungen baute die Bezirkseisenbahndirektion,
bei der sein Vater, Heinrich Gruschka, als Bahnbeamter
arbeitete. In dieser Wohnung an der Johannisstraße kam
Gerhard im Jahre 1930 zur Welt.
Aber damit endete für Gerhard die Welt noch nicht. In
ihr war auch Platz für den Park, das heißt für den
gefährlichen Wald, in den man nur zusammen mit der
Mutter gehen durfte, und für die St.
Bartholomäus-Kirche, in die die Mutter, Anna Gruschka,
Gerhard oft mitnahm. Er, der jüngste in der Familie
(die zwei älteren Brüder gingen schon zur Schule),
liebte diese Expeditionen. Besonders jedoch liebte er
die Einkäufe in der Bäckerei, bei denen er immer auf
einen "Amerikaner", wie die runden, mit Zuckerguß
bestrichenen Kuchen genannt wurden, rechnen konnte.
Vielleicht bewahrte Gerhard die Erinnerung an dieses
Paradies deshalb so gut, weil eines Tages alles endete.
Allerdings ist der Ausdruck "eines Tages" nicht
präzise, da das Ende langsam kam, jedoch unabwendbar.
Zuerst bemerkte er, daß die Stimmung zu Hause, die
gewöhnlich laut und fröhlich gewesen war, gedrückt
wurde. Es änderte sich auch der Tagesablauf: der Vater,
der jetzt angespannt und ungeduldig war, ging morgens
nicht mehr zur Arbeit. Und dann tauchte die Angst auf.
In Gerhards Erinnerung hat sie das Aussehen einer
Gestalt mit brauner Hose, Hemd und Mütze. Der braune
Riese steht an der Schwelle und schreit die Mutter an,
immer lauter und lauter, und Gerhard unter dem Tisch
wundert sich, wozu der Riese so viele Riemen und Bänder
hat.
Kurze Zeit später zogen die Gruschkas in den Stadtteil
Hutnicza um, der aus Mietshäusern bestand, die Gerhard
ewig schmutzig zu sein schienen. Dort, an der
Kanalstraße, mieteten die Gruschkas ein Zimmer mit
einer dunklen Innenküche, einem Waschbecken mit kaltem
Wasser und einer Gemein-schaftstoilette im Treppenhaus.
Teil 1: Gerhard Gruschka trifft eine Wahl
Es dauerte lange, bis er erfuhr, wem er die
"Vertreibung aus dem Paradies" zu verdanken hatte. Er
war vielleicht dreizehn Jahre alt, als er ein Schreiben
fand, das auf das Jahr 1933 datiert war. Die
Eisenbahndirektion in Gleiwitz informierte Heinrich
Gruschka, daß er entlassen werde und die Dienstwohnung
ohne Anspruch auf eine Ersatzwohnung zu verlassen habe.
Grund: Tätigkeit in der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands.
Denn sein Vater, der mit den Kindern über so ernste
Themen nicht sprach, war nicht nur Reichsbahnbeamter,
sondern auch aktives SPD-Mitglied. Außerdem war er
Schöffe am Gleiwitzer Landgericht und Mitglied im
Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, einer Kampforganisation,
die von der SPD zum Schutz von Versammlungen vor
Angriffen nazistischer und kommunistischer
Schlägertrupps gegründet worden war. Anna Gruschka, die
sehr fromm war, stimmte jedoch immer - solange es
Wahlen gab - für das katholische Zentrum. Und sie
fürchtete um ihren Mann, der bei Auftritten auf
SPD-Versammlungen nicht sehr wählerisch in seinen
Worten war, wenn er, gegen die Nazis agitierend,
erklärte: "Hitler bedeutet Krieg". Die Unterwürfigkeit,
mit der das deutsche Volk sich dem Führer unterordnete,
war die erste große politische Enttäuschung für
Heinrich Gruschka. Gerhard hat ein Bild seines Vaters
am Küchentisch in Erinnerung behalten: sein Vater liest
eine Nazi-Zeitung (andere gab es nicht), legt sie ab,
bedeckt das Gesicht mit den Händen und seufzt: "Blödes
Volk" ... Es ist das Jahr 1934. Der arbeitslose
Heinrich Gruschka verfällt in Depressionen und beginnt,
sich unvorsichtig zu benehmen: er antwortet nicht auf
den Gruß "Heil Hitler"; er hängt auch nie - solange die
Familie in Petersdorf wohnt - die Hakenkreuzflagge
heraus. Aber da sich die staatlichen Feiertage
vermehren, kommen oft SA-Männer in die Wohnung. Dann
spricht die Mutter mit ihnen: Laßt meinen Mann in Ruhe,
sagt sie, er versteht nichts, er wurde bei Verdun
schwer am Kopf verletzt (was der Wahrheit
entsprach).
Anna Gruschka konnte hart sein. Sie hatte Angst, aber
sie kämpfte. Und kämpfen mußte sie, da die Wohnung
schon einem neuen Mieter, einem SA-Mitglied, zugeteilt
worden war.
Gerhard erinnert sich heute: - Mutter versuchte
verschiedene Tricks, damit wir möglichst lange bleiben
konnten. Dieser SA-Mann kam und erregte sich, warum die
Wohnung noch nicht leer sei. Dann nahm sie sofort die
Gardinen ab, um zu zeigen, daß sie etwas tut ...
Die Kanalstraße war ein Arbeiterbezirk und lag an der
Grenze zu Polen: am Ende der Straße war schon der
Grenzübergang sichtbar. Der letztgenannte Umstand
störte die Gruschkas nun nicht gerade. Mit dem Polentum
hatten sie, trotz des Namens nichts zu tun, obgleich in
der Gegend von Ratibor (Raciborz), Stolmütz
(Tlustomosty) und Rakau (Rakow), aus der Anna und
Heinrich stammten, sich niemand mit der nationalen
Herkunft beschäftigte. Gerhard erinnerte sich lange an
die Empörung seiner Großmutter über die Frage des
kleinen Jungen, ob sie Deutsche oder Polin sei, da sie
lieber polnisch spreche.
Für Gerhard war also die Nationalität kein Problem. Er
wußte, daß eine Grenze existiert, da die Mutter von den
Kontrollen erzählte, wenn sie ihre Schwester besuchen
ging, die 1921 auf der polnischen Seite geblieben war.
Er hörte von den Aufständen, die die Eltern in Gleiwitz
erlebt hatten. In diesen Erzählungen kam die Angst vor
den Kugeln vor. Es gab jedoch nicht die "guten"
Deutschen und "bösen" Polen - was Gerhard sich erst
viele Jahre später bewußt machte.
*
Währenddessen beginnt bei den Gruschkas die Not. Seine
Mutter sorgt für den Unterhalt der Familie, sie näht
und wäscht. Heinrich Gruschka erhält erst 1935 eine
schlecht bezahlte Stelle als Arbeiter. Zur Arbeit ist
es weit. Der Vater geht früh aus dem Haus, wenn Gerhard
noch schläft, und kehrt erst in der Nacht zurück, wenn
Gerhard schon eingeschlafen ist. Wenig später
verschwindet er endgültig aus der Welt des Jungen. Er
erhält einen Befehl zum Arbeitseinsatz in Sachsen,
später dann in den Steinbrüchen bei Magdeburg.
Heinrich Gruschka verschwindet somit aus der
Kanalstraße. Er wohnt irgendwo weit weg, in Baracken
kaserniert. Diese Kasernen sind nicht von Wachen
umgeben, aber ohne Erlaubnis entfernen darf man sich
nicht. Die Familie kann er einmal im Jahr besuchen; der
Urlaub dauert zwei Wochen. Heinrich Gruschka bemüht
sich deshalb, Urlaub zu bekommen, wenn der halbwüchsige
Gerhard Ferien hat (die zwei älteren Brüder sind schon
in der Wehrmacht). Diese seltenen Zeiten verbringen
Vater und Sohn bei Verwandten in Rakau. Dort ist es
wunderbar: Wiesen, Felder und ein Fluß. Raum und
Freiheit.
*
Die erste bewußte Wahl traf Gerhard, als er noch nicht
zwölf Jahre alt war. Im Jahre 1940 beendete er die
Grundschule, und als einziger Junge aus der Kanalstraße
ging er aufs Gymnasium. Er war zehn Jahre alt. Das ist
das Alter, in dem der Staat sich an den Menschen
erinnert: von zehn bis 14 Jahren ist man im "Deutschen
Jungvolk", den sogenannten "Pimpfen", um mit 14 Jahren
in die "Hitlerjugend" überzutreten.
Gerhard erhält eine Aufforderung, bei welcher
Jungenschaft er sich einzuschreiben habe. Aber hier
entsteht ein Problem. Die Versammlungen des Jungvolks
finden am Sonntagvormittag statt. Das ist die Zeit der
Messe für Kinder. Die Sonntagsappelle werden somit zu
einem Problem für Gerhard, ja zu einem Drama - er
möchte zur Kirche gehen. Zu Gerhards Pflichten gehört
die Verteilung der Tätigkeiten unter den Ministranten.
Und er macht das gern, da er ein frommer Junge ist.
Aber bei den Sonntagsappellen überprüfen die
Hordenführer die Anwesenheit besonders genau. Es
beginnen Schwierigkeiten. Sie dauern zwei Jahre.
Schließlich hetzen die Führer (Gerhards Altersgenossen)
die Pimpfe auf. Gerhard wird verprügelt. Anschließend
organisieren sie ein "Gericht", das befindet, er sei
nicht würdig, Mitglied des Deutschen Jungvolks zu sein.
In der Begründung, in einer krakeligen Kinderschrift
verfaßt, stellt das "Gericht" fest, daß Gerhard "den
Dienst am Altar dem Dienst für den Führer
vorzieht".
Womit sollte sich Gerhard beschäftigen? Schließlich
plant er, Theologie zu studieren. Er liest viel. Seine
Welt sind Karl May und die Kirchengemeinde: an den
Freitagen eilt Gerhard zum Gottesdienst in die
Herz-Jesu-Kirche, an den Dienstagen in die St.
Antonius-Kirche und an den Sonntagen zusätzlich zum
Vespergottesdienst. Und außerdem zur täglichen Messe,
bei der er vor der Schule ministriert.
Zum Beginn des Schuljahres füllen die Schüler einen
Fragebogen aus. In die Rubrik "Zu welcher Organisation
gehörst Du?" trägt Gerhard ein: "Zu keiner". Er erhält
eine Aufforderung, zur Direktion zu kommen. Vor dem
Direktor, einem NSDAP-Mitglied, liegt Gerhards
Fragebogen. Als Deutscher mußt du organisiert sein,
sagt der Direktor. Nach den Ferien gibt es wieder einen
Fragebogen. In die Rubrik "Zu welcher Organisation
...?" trägt Gerhard ein: "Zu keiner".
Er erinnert sich: - Diesmal sagte der Direktor, wenn
ich nicht organisiert sei, könne ich nicht auf dem
Gymnasium bleiben. Ich begann zu weinen. Dann fragte
er, ob ich singen könne. Bevor ich antworten konnte,
daß ich kein musikalisches Gehör habe, befahl er mir,
zum Gesangslehrer zu gehen und ihm zu sagen, daß er
mich auf Anweisung der Direktion in den Chor des
"Jungvolks" aufnehmen solle. Ich konnte auf der Schule
bleiben.
*
Der Krieg dauert an. Die Brüder Johannes und Georg sind
in der Wehrmacht (beide überleben). Für den kleinen
Gerhard ist der Krieg jedoch nur die Ansammlung einiger
Bilder.
Das erste Bild zeigt den 1. September 1939 und die
Mutter, die Gerhard frühmorgens weckt; Worte, die das
verschlafene Kind kaum erreichen (man müsse fliehen,
polnische Aufständische hätten die Radiostation
angegriffen und es sei Krieg); ein gepanzerter Wagen
auf der Straße; der Durchmarsch von Soldaten; der Knall
von Schüssen von der Seite der Kohlengrube; wieder
Soldaten, aber nun in anderen Uniformen und ohne Waffen
... Einige Jahre später erinnert sich Gerhard an diesen
Tag, als der Lehrer im Gymnasium sagt, daß die
Wehrmacht 1939 nur auf einen polnischen Überfall
geantwortet habe. Obgleich Gerhard von Politik nichts
verstand, stimmten die Worte des Lehrers doch nicht mit
dem überein, was er erinnerte.
Er behielt auch die sich wiederholende, seltsame
Bezeichnung "Konzertlager". So sagte man: "Konzert-"
statt "Konzentrationslager". Einige erzählten heimlich,
daß es in jedem Lager ein aus Häftlingen bestehendes
Orchester gebe. Aber vielleicht ging es auch darum, das
angstmachende Wort vertrauter zu machen? Gerhard
verstand nur, daß es nichts Gutes bedeutete.
Unverständlich war Gerhard auch ein anderes Ereignis,
als er eines Tages wie immer "zu Barasch" gehen wollte.
Das muß gewesen sein, als sein Vater keine Arbeit hatte
und die Mutter, findig wie immer, einen billigen Laden
entdeckt hatte. Der Eigentümer hieß Barasch.
Er erinnert sich: - Mama bat mich, einkaufen zu gehen.
Ich sagte, dann gehe ich zu Barasch. Aber Mama
antwortete: Nein, Barasch gibt es nicht mehr, er war
Jude.
Aber am stärksten blieb Gerhard im Gedächtnis, was er
an einem Januartag im Jahre 1945 sah. Er erzählt: - Auf
dem Heimweg von der Schule traf ich eine Kolonne von
Menschen in gestreifter Häftlingskleidung, die von
SS-Männern getrieben wurde. Sie fielen nieder, und die
SS-Männer schlugen wie im Rausch auf sie ein und
schossen auf die Liegenden.
Die Russen betrachtete Gerhard als Befreier. Auch der
Vater, der aus Magdeburg zurückgekommen war, sagte, daß
es schlechter als unter Hitler nicht mehr kommen könne.
Heinrich Gruschka glaubte, daß nun ein neues,
demokratisches Deutschland entstehe. Ähnlich dachten
auch andere SPD-Aktivisten, die begannen, sich bei
Gruschkas in der Kanalstraße zu treffen. Aber obgleich
die Front schnell über Gleiwitz hinwegging, begann das
Schlimmste erst, als die sowjetischen Einheiten aus dem
Hinterland eintrafen. Die Soldaten kamen auch zu den
Gruschkas: sie nahmen sich die Koffer, warfen hinein,
was ihnen unter die Hände kam und zogen weiter.
Gruschka: - Wir hatten Glück, um uns herum geschahen
schlimmere Dinge. In unserem Haus vergewaltigten die
Sowjets junge Mädchen. Im Nachbarhaus wohnte eine
Freundin von mir, sie war 17 Jahre alt und sehr schön
... Ich kannte sie aus der Kirche. Sie widersetzte sich
der Vergewaltigung, daraufhin haben sie sie
erschossen.
Das, was sich nach dem Durchzug der Front und der
Ankunft der Polen ereignete, war die zweite große
politische Enttäuschung Heinrich Gruschkas. Gerhard
hörte später, wie sein Vater, über den Küchentisch
gebeugt, sagte: "Mein Gott, dafür habe ich die ganze
Zeit gekämpft?"
Teil 2: Gerhard Gruschka lernt das
Horst-Wessel-Lied
Nie werden wir erfahren, warum an jenem Apriltag des
Jahres 1945 in die Kanalstraße Soldaten des NKWD kamen
und Gerhard verhafteten. Einer der Nachbarn erzählte
der Mutter später, daß die NKWDler zuerst eine Etage
höher gegangen seien. Angeblich hätten sie einen
Nachbarn, einen bekannten Aktivisten der Hitlerjugend,
mitnehmen wollen. Es hieß auch, dessen Mutter hätte
einen Zettel mit der Aufschrift "Typhus" an die Tür
gehängt und den Russen erzählt, eine Etage tiefer wohne
einer, der auch in der HJ gewesen sei. Und da die
Russen Angst vor Typhus gehabt hätten, hätten sie
Gerhard mitgenommen. So sagte man ... Auf jeden Fall
war Anna Gruschka bis zu ihrem Tode davon überzeugt,
daß es so gewesen ist.
Gerhard brachte in Erfahrung, daß er verdächtigt
wurde, als HJ-Mitglied auf sowjetische Soldaten
geschossen zu haben. Beweise hatte der NKWD jedoch
nicht und überstellte den Häftling dem polnischen
Sicherheitsdienst (UB). Die Ereignisse, die darauf
folgten, beschreibt Gerhard Gruschka ein halbes
Jahrhundert später in einer Aussage, die er vor einem
Gericht in der Bundesrepublik Deutschland auf Bitten
der Kattowitzer Abteilung der Hauptkommission zur
Untersuchung von Verbrechen gegen das polnische Volk
machte.
Aus der Aussage Gerhard Gruschkas: "Die sowjetischen
Untersuchungsbeamten (...) überstellten mich der
polnischen Miliz, deren Sitz sich in der ehemaligen
Polizeikommandantur in Gleiwitz befand. Gleich am
ersten Tag in der Zelle sah ich die Folterung eines
meiner Mithäftlinge durch einen Milizoffizier. Ich
kenne den Namen nicht, ich erinnere mich nur, daß er
damals und auch später, als er auch mich folterte,
wiederholte, daß er diese Methoden von der SS in
Groß-Rosen gelernt habe. Ich stellte fest, daß im
Unterschied zu den Sowjets die polnischen
Untersuchungsbeamten an der Frage meiner Schuld
überhaupt nicht interessiert waren. Die
schmerzhaftesten Schläge bekam ich, als ich in
Übereinstimmung mit der Wahrheit erklärte, ich sei 1942
aus dem Jungvolk geworfen worden und hätte im
Zusammenhang damit Ärger in der Schule gehabt. (...)
Während des Verhörs fand der Milizionär bei mir einen
Rosenkranz, den mir meine Mutter bei der Verhaftung
gegeben hatte und den die Russen mir erlaubt hatten zu
behalten. Der Milizionär fragte mich, welcher
Konfession ich angehöre, und als ich römisch-katholisch
antwortete, warf er den Rosenkranz auf den Boden,
zertrat ihn und schrie: "nix römisch-katholisch, du
berlinski-katholisch".
In der zweiten Aprilhälfte 1945 wurde ich zusammen mit
einer Gruppe von Verhafteten mit der Straßenbahn nach
Swietochlowice gebracht, und von dort aus zu Fuß ins
Lager Zgoda. (...) Die noch deutschen Aufschriften
"Vorsicht, Hochspannung, Lebensgefahr" wiesen auf die
tatsächlichen Erbauer hin. Aber wer von uns Häftlingen
aus der "zweiten Generation" dieses
Konzentrationslagers war schon fähig, diesen
Zusammenhang wahrzunehmen, da wir nach dem Schock kaum
wieder zu uns kommen konnten. (...)
Ich wurde dem sog. braunen Block zugeteilt. Dort fand
die "Begrüßung" statt, die darin bestand, daß wir uns
auf einen Hocker legen mußten und danach jedem die
"Frage" gestellt wurde, wie oft er den Gummiknüppel
erhalten möchte. Die Praxis war ziemlich willkürlich.
Wenn jemand "zwanzig" sagte, konnte es sein, daß er
zwanzig Hiebe erhielt. Aber es konnte auch sein, daß er
zehn bekam - oder dreißig. Für den schlagenden
Milizionär war wichtig, daß der Häftling die Schläge
zählte und nicht zu laut schrie. (...)
In der Nacht folgte der erste "Überfall" mit Schlägen.
Solche "Überfälle", während derer wir das Stöhnen, die
Schreie und die Bitten um Gnade der gefolterten
Mithäftlinge anhören mußten, fanden regelmäßig statt.
Der Kommandant Morel [Salomon Morel, im Jahr 1945
Kommandant des Lagers Zgoda] führte sie mit seinen
Leuten durch. (...) Morel mag damals 25 - 30 Jahre alt
gewesen sein, von kräftiger Gestalt. Uns Häftlingen
gegenüber schäumte er vor Haß. Wenn er auf irgendeinen
Häftling aufmerksam wurde, bedeutete das meistens das
Todesurteil. Seine "Spezialität" war das Schlagen mit
einem Holzhocker, der noch aus deutschen Zeiten
stammte. Er ergriff den Hocker an einem Bein und schlug
den Häftling mit ganzer Kraft mit der massiven
Sitzfläche. (...) Nie werde ich das Flehen der
Geschlagenen vergessen. Aber Gnade gab es niemals. Und
dabei waren die Geschlagenen und Getöteten in der
Mehrheit einfache Männer und Jungen aus Oberschlesien.
Auch wenn unsere Baracke die "braune" genannt wurde, so
hatte ich trotzdem den Eindruck, daß es in ihr nicht
einen "dicken Nazi-Fisch" gab. Denn wer im Dritten
Reich irgendeine politische Funktion besessen oder
etwas auf dem Gewissen hatte, der war vor der Front
geflohen. (...)
Von vielen grausamen und unmenschlichen Situationen
erinnere ich mich an eine besonders deutlich. Sie
wiederholte sich oft und war gleichermaßen grotesk wie
gespenstisch. Während seiner nächtlichen "Besuche" in
der Baracke befahl der Kommandant Morel oft einer
Gruppe von Häftlingen, für die er vorgab, eine
besondere Schwäche zu haben, aus den Reihen
herauszutreten. Es ging um die, wie er sagte,
"HJ-cziks" [Mitglieder der Hitlerjugend]. Regelmäßig
kam dann der Befehl: "Singt mir das Horst-Wessel-Lied,
aber schnell" [das Horst-Wessel-Lied war die Hymne der
Nazi-Bewegung]. Und wenn wir dann sangen, schlugen uns
Morel und die Milizionäre mit Knüppeln. Wie ich schon
erwähnt hatte, konnte es tödlich sein, im Lager
aufzufallen, besonders bei Morel. Während des ersten
solchen Überfalls, als ich mit den anderen singen
mußte, bekam ich besonders viele Schläge, da ich die
zweite und dritte Strophe dieses Liedes nicht kannte.
Ich konnte aber die erste, da diese oft während
verschiedener Feierlichkeiten gesungen worden war. Am
Morgen nach dieser Nacht lernte ich daher schnell die
beiden weiteren Strophen. Das war drei Monate nach
Beendigung der Nazi-Herrschaft in Oberschlesien!
Die Zeit der Folterungen im Lager endete mit dem
Ausbruch einer Typhusepidemie im Juli 1945, als Morel
und seine Leute aus Angst vor Ansteckung nicht mehr ins
sog. innere Lager kamen.
Ich war 14 Jahre alt, und es fällt mir schwer, aus dem
Gedächtnis zu rekonstruieren, wie viele Häftlinge durch
das Lager gingen und wie viele hier den Tod gefunden
haben mögen. (...) Schon vor der Epidemie war die Zahl
derjenigen hoch, die als Ergebnis der Folterungen
umkamen oder an Krankheiten oder Entkräftung starben.
Zu essen bekamen wir die tägliche "Wassersuppe" und
einen Laib Brot für - abhängig von der Situation -
acht, zehn oder zwölf Leute. (...) Der Wagen mit
Leichen, der täglich morgens das Lager, von Häftlingen
gezogen, verließ, war meistens überladen. (...)
Im Oktober 1945 tagte in der Baracke der Kommandantur
eine Kommission von Richtern (oder Staatsanwälten), die
alle Häftlinge verhörte. Viele wurden freigelassen. Ich
befand mich jedoch nicht unter diesen Glückspilzen,
obwohl ich der jüngste im Lager war. (...) Ich blieb im
Lager Zgoda bis zu seiner Auflösung im November 1945.
Zusammen mit den übrigen noch verbliebenen Häftlingen
wurde ich ins Lager in Jaworzno überstellt".
*
Nicht alles, was Gerhard Gruschka in Zgoda erlebt
hatte, beschrieb er in der Aussage und in seinen
Erinnerungen, die in Deutschland im Jahre 1996
erschienen sind. Einen Teil verschwieg er. Was?
Schweigen: - Nein ... Ich will nicht darüber
sprechen.
Nach einer Weile: - Einige Szenen waren noch brutaler
...
Nach einigem Überlegen: - Nun, vielleicht ... Einmal
fragte Morel, wer Landwirt sei. Etliche meldeten sich.
Er wählte einen aus und sagte: du kommst 'raus, wenn du
eine Kuh für das Lager besorgst. Der Bauer freute sich,
fuhr mit den Wachleuten weg, sie kamen mit einer Kuh
zurück. ... Beim folgenden Appell zog Morel diesen
Menschen aus der Reihe heraus und schlug ihn tot.
Warum? Vielleicht wollte er zeigen, daß er sein Wort
nicht halten muß? Ich habe das nicht beschrieben, weil
ich weiß, daß es unglaubwürdig klingt ... Jemand könnte
denken, daß ich mir alles ausgedacht habe.
Auch die Selbstmörder hat er nicht beschrieben, die er
aufgehängt in der Latrine fand. Er beschrieb nicht, wie
die Milizionäre störrische Häftlinge in den Bunker
sperrten. Der Bunker war voller Wasser, und durch die
dicken Mauern waren die ertrinkenden Unglücklichen zu
hören: zuerst Schreie, dann Stille.
Wie viele Menschen sind in Zgoda umgekommen?
Schätzungen, die von deutschen Quellen angegeben
werden, die der Vertriebenenpresse nahestehen, sprechen
von 7.000 bis 8.000; gemäßigte deutsche Quellen von
3.000. Von polnischer Seite schrieb 1993 Krzysztof
Karwat, ein Journalist, der sich auf das Thema
Schlesien spezialisiert hat, im Dziennik Zachodni, im
Standesamt in Swietochlowice gebe es 1.800
Todesurkunden aus dem Lager, die die Unterschrift
Morels trügen. Die endgültige Zahl ist schwer
festzustellen - sowohl die Deutschen als auch Karwat
halten es für möglich, daß die Lagerbehörden nicht alle
Todesfälle gemeldet haben. Es bleiben Spekulationen. Um
so mehr, als die Familien die Leichname nicht
erhielten.
Gruschka: - Sie wurden in Sammelgräbern vergraben. Ich
habe das selbst gesehen, als ich einer Gruppe von
Häftlingen zugeteilt war, die die Gräber aushob. Wir
gruben eine schmale, tiefe Grube, in die viele Körper
hineingelegt wurden. Nach dem Zuschütten schien es so,
als ob dort nur eine Person liege.
*
Der Winter 1945/46 war hart. Eines Tages verbreitete
sich in Jaworzno dieNachricht, eine Gruppe von
Freiwilligen zum Schneeräumen auf den Straßen Krakaus
solle gebildet werden. Gerhard meldete sich und kam so
ins Krakauer Gefängnis. Schnee räumte er jedoch nicht.
Stattdessen verbrachte er dreieinhalb Monate in einer
Zelle in der Gesellschaft von Polen: Soldaten der AK,
Kollaborateure, ein Blockältester aus Auschwitz ...
Diese Monate waren monoton, aber es gab weder Schläge
noch Hunger. Bis der 16. März 1946 kam.
Er sagt: - Ich wurde zur Tür gerufen und hörte zwei
Wörter, die seitdem die schönsten Wörter in polnischer
Sprache für mich sind: "Do domu!" [Nach Hause!]
In seinen Erinnerungen schrieb er: "Ich erhielt eine
Bescheinigung über die Entlassung. Ich hatte jedoch
keinen Groschen und konnte nur wenig polnisch. Mit
Dankbarkeit denke ich heute an den polnischen
Eisenbahner, der mich auf den Bahnsteig des Krakauer
Bahnhofs ließ, an den Schaffner des Zuges nach
Kattowitz, der mir, obwohl ich keine Fahrkarte besaß,
gute Reise wünschte, und an die Schaffnerinnen in den
Straßenbahnen in Kattowitz und Gleiwitz, denen meine
Bestätigung aus dem Gefängnis genügte".
So erreichte er wieder die Kanalstraße, die nun ul.
Franciszkanska hieß.
Teil 3: Gerhard Gruschka richtet sich sein Leben
ein
Es ist nicht bekannt, wie lange Gerhard noch im
Gefängnis gesessen hätte, wenn nicht seine Eltern
gewesen wären: um den Sohn zu retten, nahmen sie die
vorläufige polnische Staatsbürgerschaft an. Sobald sie
in ihrem Besitz waren, wandten sie sich an einen
polnischen Rechtsanwalt. Seinen Bemühungen verdankte
Gerhard die Freiheit. Es gab nur eine Bedingung: auch
er mußte einen Antrag stellen. Aber als im September
1946 die Zeit der endgültigen Entscheidung kam,
verweigerten Heinrich, Anna und Gerhard Gruschka die
Annahme der Staatsbürgerschaft. Solch eine Wahl
bedeutete die Aussiedlung in die sowjetische
Besatzungszone (Transporte in den Westen gab es schon
nicht mehr).
Hätten sie sich anders entscheiden können? Sie fühlten
sich als Deutsche. Und der Raum, wo sie das Recht
hatten, sich so zu fühlen, wurde immer kleiner. Zu
Hause waren sie schon nicht einmal mehr in der Kirche,
die für Gerhard bisher ein Rückhalt gewesen war und in
der er nun als sechzehnjähriger Kirchendiener
arbeitete.
Denn die polnischen Priester hatten kein Verständnis
für die deutschen Gläubigen. Aber konnte das anders
sein, fragt sich heute Gerhard Gruschka, wenn Pater
Wojciech in die Herz-Jesu-Gemeinde, die jetzt Serca
Jezusowego heißen sollte, aus Dachau kam? Pater
Wojciech, ein Franziskaner, traf eines Tages in
Gleiwitz ein, und ohne irgendwelche Dokumente der
kirchlichen Behörden zu zeigen, setzte er den deutschen
Kurator (Administrator) der Gemeinde, Pater Hyazint,
ebenfalls ein Franziskaner, vor die Tür.
Die Gruschkas hatten zumindest insofern Glück, als es
im Herbst 1946 die sog. wilden Vertreibungen wie im
Jahr 1945 schon nicht mehr gab, als die Ausgesiedelten
eine halbe Stunde hatten, um ihre Sachen zu packen. Den
Termin erfuhren sie frühzeitig. Es war Oktober 1946.
Die realistische Mutter entschied, daß sie wenig
Sachen, aber viel zu essen mitnehmen sollten. Sie
behielt recht: die Reise über die Neiße dauerte zwei
Wochen. Auf dem Weg nahmen die Milizionäre den
Gruschkas einen Wecker, Gerhards Schultasche, eine
Speckseite und die bessere Kleidung ab.
Aus Görlitz wurde Heinrich Gruschka mit seiner Familie
nach Leipzig geschickt - die dortigen Eisenbahnbetriebe
brauchten Arbeiter. Dort ging Gerhard nach Neujahr zur
Schule.
Er erinnert sich: - Schnell bemerkte ich, daß der
Unterricht unter dem Einfluß der kommunistischen
Ideologie stand. Diese Tendenz war schon erkennbar.
Nach einigen Monaten ging er dann zum Gemeindepfarrer,
der die Familie schon kennengelernt hatte (Gerhard
diente auch hier in der Messe). Der Pfarrer versprach,
ihm einen Platz in einer katholischen Schule mit
Internat im Westen zu besorgen. Und er tat es: in
Riedlingen in Württemberg. Das war die französische
Zone. Um dorthin zu gelangen, mußte Gerhard illegal
über die Zonengrenze gehen. Beim ersten Mal fingen ihn
die Amerikaner, beim zweiten Mal die Russen (und
schickten ihn nach Hause) ... Erst der dritte Versuch
gelang.
*
Das Gymnasium beendete Gerhard 1952 - und trat dann in
ein Priesterseminar ein. Als sich die Nachricht
verbreitete, daß Kleriker gesucht würden, die bereit
wären nach Erfurt überzusiedeln (dort entstand das
einzige Priesterseminar in der DDR), meldete Gerhard
sich - er wollte nahe bei seinen Eltern sein.
Im Seminar legte er alle Prüfungen ab. Aber ein halbes
Jahr vor der Weihe trat er aus. - Mutter war sehr
enttäuscht ... - bekennt er.
Es war das Jahr 1956 und Gerhard überlegte, was er
machen könnte. Er beschloß, wieder nach Westen zu
flüchten und zu studieren. Er war schon dabei, sich vom
Leiter des Seminars zu verabschieden.
- Ich gab zu, daß ich flüchten wollte - erinnert er
sich. - Aber der Leiter sagte, daß es in Ungarn eine
Revolution gebe, unsere Behörden verschreckt seien und
daß ich um die Zustimmung zur legalen Ausreise bitten
sollte. Und wenn das nicht gelänge, könne man immer
noch flüchten.
Gerhard stellte einen Antrag. Und er erhielt nicht nur
die Erlaubnis zur Ausreise, sondern einen sog.
"Zonenpaß", der zum zweimaligen Grenzübertritt
berechtigte. Er konnte sich in der Bundesrepublik eine
Arbeit (als Erzieher in einem katholischen Internat)
und einen Studienplatz suchen, zurückkehren und
endgültig ausreisen sowie seinen Besitz (Bücher und ein
Moped) mitnehmen. Aber ein DDR-Bürger, der legal mit
seiner Habe ausreiste, war für die westdeutschen
Beamten ein seltener Anblick. Und ein verdächtiger.
Schon an der Grenze sagten die westlichen Grenzer
Gerhard direkt, daß es Probleme geben werde.
Tatsächlich: als er im Internat erschien, hörte er, daß
die "Herren von der Gegenaufklärung" schon dort gewesen
waren ...
Wenig später wurde Gerhard zum Sitz der CIA in
Nürnberg gebeten. Die höflichen Amerikaner sagten ihm,
daß sie ihn der Spionage verdächtigen. - Sie glaubten
nicht, daß ich legal ausgereist war - erinnert er sich.
- Vielleicht haben sie mich überprüft? Einige Monate
später erhielt ich die Staatsbürgerschaft der
Bundesrepublik.
Ein Jahr später - Weihnachten 1957 näherte sich -
beschloß Gerhard Gruschka, seine Eltern in der DDR zu
besuchen. Seine Mutter schrieb, er werde ein Visum
erhalten, nur müsse er sich nach der Ankunft im Rathaus
melden. Im Leipziger Rathaus zeigte sich, daß unter der
angegebenen Zimmernummer die Abteilung für Innere
Angelegenheiten saß. In dem Zimmer erwarteten Gerhard
mehrere Beamte.
- Sie befragten mich, wie es mir gehe, und dann fingen
sie an zu erzählen, was sie alles über mich wußten,
wieviel ich verdiene, was ich studiere - erinnert er
sich. - Sie wußten sogar, daß wir mit den Schülern des
Internats einen amerikanischen Flugplatz besucht
hatten. Ich war erstaunt. Zum Schluß sagte einer, daß
ich jung sei und mir leicht die Registrationsnummern
der Panzer und der Armeefahrzeuge merken könne. Und da
ich so viel erlebt hätte, sei ich sicher für den
Frieden und sollte etwas dafür tun. Ich antwortete, daß
ich das bereits tue, indem ich die Schüler lehre, was
Krieg bedeutet. Sie antworteten darauf, das sei zu
wenig. Ich antwortete, ein Spion würde ich nicht.
Darauf erklärten sie, daß ich die Eltern nie
wiedersehen werde.
Er sah sie sechs Jahre später wieder: sie emigrierten
über das Rote Kreuz in die Bundesrepublik.
Warum interessierte sich der DDR-Nachrichtendienst für
den abgebrochenen Priester und zukünftigen Lehrer?
Paradoxerweise verstanden diese Leute wohl, daß in
einer Demokratie jeder Karriere machen kann. Oder sich
zumindest in der Nähe von Leuten befinden konnte, die
sie machten. Wie Gerhard, der einige Jahre später die
Schwester des Direktors der Bundestagskanzlei
heiratete. - Manchmal erzählte mein Schwager uns
verschiedene Geschichten ... - bekennt er heute
lächelnd. - Nun, wiederholen kann ich sie nicht ...
*
Als Gerhard Gruschka noch Student war, las er viel über
die NS-Zeit. Er besuchte auch Prozesse gegen
NS-Verbrecher. - Ich machte mich von
Lehrveranstaltungen frei, um bei den Verhandlungen
dabei zu sein - sagt er. - Ich ging für mich selbst
dorthin. Mich interessierte das Verhältnis dieser
Menschen zu den Tatsachen. Das war wichtig, weil ich
bei Morel festgestellt hatte, daß ein Mensch in solchen
Situationen kein Schuldgefühl hat.
Er konnte nicht verstehen, warum die Prozesse
gewöhnlich mit milden Urteilen endeten. Später las er,
daß die Richter oft selbst Mitglieder der NSDAP gewesen
waren.
Lehrer wurde er 1960. Er unterrichtete Religion und
Deutsch sowie (wegen eines Mangels an Fachlehrern) auch
Sport. Politisch engagierte er sich nicht ("Nach dem,
was ich erlebt habe, stand ich Politik und Ideologie
distanziert gegenüber"). Er trat auch dem
Vertriebenenverband nicht bei, da ihm die Politik des
Verbandes nicht gefiel. Manchmal nur schrieb er einen
Brief an die Redaktion der Schlesischen Nachrichten
(eine gemäßigte Zeitschrift der Schlesischen
Landsmannschaft). Als im Jahre 1970 Bundeskanzler
Brandt den Vertrag mit der Volksrepublik Polen über die
Anerkennung der Grenze unterschrieb, war das für ihn
kein Schock wie für viele Vetriebene, die geglaubt
hatten, daß sie eines Tages zurückkehren würden.
- Für mich war klar, daß das Rad der Geschichte sich
nicht zurückdrehen wird - sagt er.
Und so fand Gerhard Gruschka schließlich sein privates
Glück. Er ließ sich in der Kleinstadt Balve östlich des
Ruhrgebiets nieder. Er fand eine Ehefrau. Und mit ihrer
Hilfe befreite er sich von den Alpträumen, die ihn
quälten, seitdem er Zgoda verlassen hatte.
- Erst damals fing ich an, besser zu schlafen --
bekennt er. - Wir haben uns viel unterhalten ...
Vielleicht war das Lager auch schuld daran, daß
Gerhard das Priesterseminar verlassen hatte.
Er sagt: - Das war nicht der einzige Grund, aber nach
dem Lager konnte ich mein Verhältnis zum Herrgott nicht
in Ordnung bringen ... Ich konnte mich nicht aussöhnen.
... Die Polen hatte ich mir nach den Erzählungen meiner
Mutter als Katholiken vorgestellt. Aber in Zgoda gab es
morgens zum Appell den Befehl "Do modlitwy" [Zum
Gebet]. Und wir sangen "Kiedy ranne wstaja zorze", und
abends "Wszystkie nasze dzienne sprawy". Ich kannte
diese Lieder nicht, aber ich lernte sie schnell; wenn
jemand sie nicht konnte, wurde er geschlagen.
Außer seiner Frau wußte nur sein Sohn von Zgoda
("Bevor ich ihm davon erzählte, haben wir viel über das
Dritte Reich gesprochen"). Das erste Mal sprach er mit
ihm darüber, als sein Sohn zum Gymnasium ging.
Er sagt: - Einmal kam mein Sohn aus der Schule
verweint zurück. Ich quetschte aus ihm heraus, daß über
KZs gesprochen worden war. Und Martin, ein spontaner
Junge, schoß heraus, daß sein Vater in einem Nebenlager
von Auschwitz gewesen war. Darauf sagte die junge
Lehrerin aus der 68er-Generation, das sei ja
phantastisch, sicher sei er in der Widerstandsbewegung
gewesen. Mein Sohn erklärte aber, daß ich nach dem
Krieg gesessen hätte. Und sie sagte dann, daß sein
Vater es dann wohl verdient haben müsse ...
Danach sprach Gerhard Gruschka außer mit seiner Frau
und seinem Sohn bis zu den 90er Jahren mit niemandem
über Zgoda. Und ein wenig litt er darunter, daß das
Thema der Lager für Deutsche in der Bundesrepublik ein
Tabu war. - Über die Vertreibungen wurde gesprochen,
aber nicht über die Lager, - erinnert er sich.
Einmal sah er im Fernsehen einen Film über
Ravensbrück.
- Der Film bewegte mich, - sagt er. - Ich entdeckte
Ähnlichkeiten ... Menschlich, psychologisch ... Ich
schrieb an das Fernsehen, warum nicht über den späteren
Zeitraum gesprochen werde. Ich erhielt die Antwort, daß
"einige Dinge politisch nicht möglich sind". Und ich
verstand das ... Das Fernsehen muß sich die Frage
stellen, wie die Millionen Zuschauer z.B. auf einen
Film über Zgoda reagieren würden? Würden sie das nicht
als eine Relativierung von Auschwitz verstehen? Und das
wäre das letzte, was ich wollte ...
In seinem Unterricht behandelte Gerhard Gruschka oft
die Geschichte Deutschlands.
Er sagt: - Ich sprach mit den Schülern über die
neueste Geschichte, über Auschwitz. Ich nahm, sogar in
Abweichung vom Lehrplan, als Lektüre die Tagebücher der
Anne Frank. Wir besprachen sie, die Schüler waren
bewegt, die Mädchen weinten. Einige Lehrer, die mit
Nazi-Vergangenheit, schauten mich schief an.
Teil IV: Gerhard Gruschka wird eine öffentliche
Person
Anfang 1993 fand Gerhard Gruschka in den Schlesischen
Nachrichten einen Artikel über Zgoda. Darin waren
Ungenauigkeiten. Also schrieb er einen Brief an die
Redaktion. Die Zeitung brachte ihn mit dem Autoren des
Textes in Kontakt. Und der gab die Adresse Gruschkas an
John Sack weiter. So kam Sack - ein amerikanischer
Journalist, Autor von Reportagen aus den Kriegen in
Korea, Vietnam und dem Irak - nach Balve und machte ein
Interview mit Gruschka. Sack sammelte Material für ein
Buch über Lager für Deutsche in Polen. Genauer: über
Lager, in denen Juden Wächter waren, die sich für das
erlittene Unrecht rächten.
Als wenig später das Buch "Auge um Auge" in den USA
erschien, brach ein Skandal aus. Man glaubte dem Autor
nicht. Sack verteidigte sich damit, daß er Zeugen
habe.
Gruschka erinnert sich: - Im Sommer 1993 meldete sich
bei mir das amerikanische Fernsehen CBS. Später erfuhr
ich, daß sie sich mit dem Thema beschäftigten, weil man
Sack nicht glaubte, obgleich er selbst jüdischer
Herkunft ist und liberale Ansichten hat. Als die CBS
nach Balve kam, gewann ich den Eindruck, daß sie mir
etwas unterstellen wollten, und durch mich auch Sack.
Tatsächlich sagte der Produzent zum Schluß, er sei Jude
und habe nicht geglaubt, daß Juden so etwas wie Morel
tun könnten, ich hätte ihn aber überzeugt. Ich
antwortete, für mich sei der Schock gewesen, daß
Christen so etwas tun.
Den Film der CBS sahen in den USA 35 Millionen
Menschen, und Gerhard Gruschka wurde bekannt. Er
erinnert sich: - Nach diesem Film waren Journalisten
aus den USA, England, Holland, nun, und auch aus
Deutschland bei mir. Zeitungen, Radio, Fernsehen ...
Sogar von der "New York Times" waren welche da. Ich muß
sagen, daß sie sehr anständig waren. Ich befürchtete,
sie würden mich kritisch behandeln. Aber sie
behandelten mich ernsthaft und sachlich.
Gruschka leidet heute nicht mehr. Er sagt: - Nach 1989
wurde vieles dokumentiert, was vorher tabu war. Warum
jetzt? Vielleicht hat man nach 1990 in Deutschland
wahrgenommen, daß man in Polen nun beginnt, offen über
unbequeme Themen zu sprechen ... Und da ihr redet, ist
es auch bei uns möglich? Denn heute kann man sich mit
Polen unterhalten und wird nicht als jemand verurteilt,
der ihr Leiden relativieren will. Vor einigen Jahren
habe ich davon nicht einmal geträumt... Und vor kurzem
bin ich im Kattowitzer Fernsehen aufgetreten und habe,
vor dem früheren Lagertor stehend, über Zgoda
gesprochen ...
Der Besuch Sacks bewirkte auch, daß er seine
Erinnerungen niederschrieb. Tatsächlich brachte er das
zu Papier, was er schon seit Jahren im Kopf hatte. Zeit
dafür fand sich erst, als er 1992 in Pension ging.
- Es gab noch einen anderen Grund - sagt er heute. -
Ich sah, wie viel Unsinn eschrieben wird. Ich las
einige Artikel in den Zeitungen der Landsmannschaften
und begann zu befürchten, daß jemand unser Leiden
instrumentalisiert.
Lange suchte er einen Verleger. Es war die Zeit, als
das Echo des Streits um das Buch Sacks die
Bundesrepublik erreichte. Auch die Mehrheit der
deutschen Medien kritisierte es - der Piper-Verlag
stampfte eine schon gedruckte Auflage ein. Schließlich
erschien "Auge um Auge" in einem wenig bekannten
Verlag. Und in solch einem Moment kam Gruschka mit
seinem Manuskript.
- Ich war naiv - erinnert er sich. - Ich dachte, das
Thema interessiere die schlesischen Verlage. So nennen
wir einige Firmen, die Nachfolger von Verlagen aus
Schlesien von vor 1945 sind. Aber alle lehnten ab.
Einer der Verleger sagte mir, das sei ein verfängliches
Thema ...
Endlich akzeptierte der bayerische Verlag "ars una"
das Manuskript. Die Erinnerungen erschienen 1996. Ein
Jahr später wurde eine zweite Auflage gedruckt*.
Zahlreiche Zeitungen veröffentlichten Rezensionen,
darunter die angesehenen Tageszeitungen Frankfurter
Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung sowie auch
Radio und Fernsehen. Der Schlesier, eine Zeitung der
Landsmannschaften, lehnte den Abdruck einer Rezension
dagegen ab. Mit der Begründung, die Erinnerungen seien
den Polen zu wohlgesonnen. Auch von einigen
Mithäftlingen wurde Gruschka vorgeworfen, das Buch sei
zu versöhnlich.
Er erinnert sich: - Jahrelang hatte ich keinen Kontakt
mit anderen Häftlingen. Erst Sack gab mir einige
Adressen. Ich lud Leute zu mir ein, wir schrieben uns
Briefe. Als die Erinnerungen erschienen, wandte ein
Teil sich von mir ab. Zwei hörten auf, Briefe zu
beantworten. Drei andere warfen mir vor, daß ich
verschiedene Geschichten mit Morel verschwiegen habe.
Jemand sagte, die Beschreibung der Reise von Krakau
nach Hause, wie mir geholfen wurde, sei eine Lobeshymne
auf die Polen.
Tatsächlich schrieb Gerhard Gruschka, er verstehe das
Vorgehen der polnischen Wachleute, von Leuten, die
selbst Häftlinge gewesen waren. Das mochte im
Vertriebenenmilieu nicht gefallen.
Er sagt: - Als mir vorgeworfen wurde, daß ich mit
Verständnis über die Polen geschrieben habe, die uns
schlugen, da kam mir die Kolonne von Menschen in
gestreifter Häftlingskleidung in Erinnerung ... Ich
wußte nicht viel. Aber ich fühlte, daß das, was die
Polen in Zgoda machten, die Rache für irgendwelche
schrecklichen Dinge war ... Ja, sie haben an uns
Verbrechen begangen. Aber ... vielleicht mag das wie
eine Beschönigung klingen, aber vielleicht hatte ich
dank der Erlebnisse meiner Familie ... jedenfalls ein
Bewußtsein der Reihenfolge ...
*
Erst 1992 kam Gerhard Gruschka zum ersten Mal seit der
Aussiedlung wieder nach Polen.
Er erinnert sich: - Ich fuhr mit dem Auto, mit meiner
Frau. Zuerst nach Rakau zu Verwandten, die nach dem
Krieg geblieben waren. Von dort nach Gleiwitz. Mit dem
Zug. Die Strecke Gleiwitz - Rakau bin ich als Kind so
viele Male gefahren ... Ich fuhr ohne meine Frau. Ich
wollte allein sein. Zuerst ging ich zu dem Haus, in dem
ich geboren wurde. Und zur St. Bartholomäus-Kirche.
Alles steht noch ... Und dann in die frühere
Kanalstraße. Aber ich wagte nicht zu klopfen. Ich hatte
gehört, daß die Polen gastfreundlich sind und nichts
dagegen haben, wenn man hereinschaut. Ich stand vor der
Tür, auf dem Flur, aber ich traute mich nicht.
Am nächsten Tag fuhr er nach Zgoda. Lange suchte er.
Schließlich fand er es. - Von dem Lager gibt es heute
keine einzige Spur mehr - sagt er. - Es sind nur zwei
Ziegel-Torpfosten geblieben. Dort, wo die Baracken
waren, sind heute Schrebergärten. Ich bin herumgegangen
und habe irgend etwas gesucht. Ich habe nichts
gefunden. Es war still, sehr still.
Noch am selben Tag hat er Auschwitz besucht.
Gerhard Gruschka, etwas verlegen: - Vielleicht klingt
das pathetisch. ... Aber ich glaubte, da ich in Zgoda
gewesen bin, sollte ich auch nach Auschwitz fahren. Für
mich ist das eine mit dem anderen verbunden. Wenn es
Auschwitz nicht gegeben hätte, dann hätte es auch kein
Lager für Deutsche in Zgoda gegeben.
Nach einer Weile, schon sicherer: - Ich glaube, es ist
wichtig, sich so zu erinnern. Damit auf der einen Seite
Zgoda nicht vergessen wird. Aber auch auf der anderen
Seite ... Da es bei uns in Deutschland auch solche
gibt, die sich so verhalten, als ob die Lager im Jahre
1945 begonnen hätten ...
Ein zweites Mal kam er im Jahr 1994.
Während seiner ersten Reise hatte er festgestellt, daß
die St. Nikolaus-Kirche bei Rakau keinen Turmhelm
hatte, da er 1945 von einem russischen Geschoß
getroffen worden war. Aber es ist eine schöne
Barockkirche, die Kirche seiner Eltern, in der auch er
bei der Messe gedient hatte ... Also organisierte er
nach seiner Rückkehr nach Deutschland eine
Geldsammlung. Zu seiner Überraschung brachte er schnell
20.000 DM zusammen. Den Entwurf für den neuen Helm
machte ein polnischer Architekt, der aus den polnischen
Ostgebieten stammt. Bekannte aus Gleiwitz kauften
billig Kupfer und ein Vetter aus Rakau Holz für das
Gerüst. Ein Kran kam und montierte den Helm. Gerhard
Gruschka war bei der Einweihung.
Danach fuhr er nach Zgoda. Mit Hilfe örtlicher
Bekannter brachte er am Ziegeltor des Lagers einen
Stein mit einer Christusfigur und dem Datum "1945"
an.
Er erzählt: - Als wir das erste Mal dort gewesen
waren, sagte meine Frau nachher, daß irgendein Denkmal
gut wäre. Irgend etwas, das erinnern würde ... Später
fand ich im Urlaub einen flachen Stein in einem
Gebirgsbach. Ein Steinmetz brachte die Christusfigur an
und prägte die Ziffer ein, ohne Aufschrift ... Diese
Aktion, ihn an das Tor anzubringen, war illegal ... Als
wir sie einmauerten, kamen drei Männer. Es zeigte sich,
daß sie für die Gärten verantwortlich waren. Sie waren
erregt. Aber als sie erfuhren, was wir machen, änderten
sie schnell den Ton. Sie kamen zu mir, gaben mir die
Hand und sagten, daß wir weiterarbeiten sollen ... Und
sie brachten sogar eine Hacke und einen Spaten, um den
Zement anzurühren ...
Das dritte Mal war Gruschka 1995 in Polen. Auf dem
Friedhof in Ruda nahm er an der Weihung des Kreuzes und
der Grabplatte mit der zweisprachigen Aufschrift "Den
Opfern des Lagers Zgoda-Swietochlowice 1945" teil.
Später kam er das vierte, fünfte und sechste Mal schon
als Lehrer, um unbezahlt Deutsch zu unterrichten in
Kursen für die schlesischen Deutschen. Er half auch bei
der Anknüpfung einer Zusammenarbeit zwischen einer
Schule in dem Dorf Torkow/Torkau und einer Schule in
Balve.
Jedesmal besuchte er Zgoda. Er sah nach. Heute muß er
schon nicht mehr nachsehen: die Behörden von Ruda
legalisierten die Tafel, die er in das frühere Lagertor
eingemauert hat.
*
Als Gerhard Gruschka einen Verleger für seine
Erinnerungen suchte, bekam er ein bestimmtes
Angebot.
Er sagt: - Ein bestimmter Verlag war bereit, das Buch
zu drucken. Aber nach dem ersten Briefkontakt wurde mir
klar, daß das irgendwelche Rechtsradikalen sind.
Also nahm er das Angebot nicht an.
Denn wenn man über solche Lager oder auch über
Deutsche als Opfer schreibt, gerät man leicht in
schlechte Gesellschaft. Wie Sepp Jendryschik, dessen
Vater in Zgoda umkam.
Das Buch Jendryschiks veröffentlichte 1997 ein "Verlag
für ganzheitliche Forschungen". Dieser Verlag gibt
keine Adresse an, sondern nur die Nummer eines
Postfaches in Viöl, einer kleinen Ortschaft an der
Grenze zu Dänemark. Das Buch gibt es nicht im
Computerkatalog, an das die deutschen Buchläden
angeschlossen sind. Sein Untertitel lautet:
"Dokumentation über eines der Konzentrationslager in
Polen, die seit Winter 1944 mit dem Ziel gegründet
wurden, die deutsche Bevölkerung in den besetzten
Ostgebieten zu vernichten".
Das ist eine Sprache und sind intellektuelle
Bestrebungen, deren Ziel darin besteht - wie die
rechtsradikalen Publizisten schreiben - "der Linken das
Begriffsmonopol zu nehmen". Bestimmte Wörter haben in
der Bundesrepublik einen konkret zugeschriebenen
Inhalt, wie "Vernichtung" oder "Todesmarsch". Auch in
diesem Buch geht es also darum, diesen Wörtern ihre
Bedeutung zu nehmen. So ist es, wenn Jendryschik von
der "Vernichtung der deutschen Bevölkerung", den
"schlesischen Todesmärschen" oder der "Gründung [von
Lagern durch Polen] seit Winter 1944" schreibt. Daraus
soll hervorgehen, die Polen hätten ein geplantes System
zur Vernichtung von Deutschen geschaffen, das mit dem
Nazi-System vergleichbar war.
Das Buch Jendryschiks enthält nicht nur Berichte der
Häftlinge von Zgoda. Der Autor sowie Roland Bohlinger,
Chef des Verlags aus Viöl, haben es mit einem Kommentar
versehen. Der Leser erfährt, daß die schlesischen
Deutschen von den germanischen Vandalen abstammten und
die polnische Bevölkerung erst im 19. Jahrhundert als
Arbeitskräfte zugewandert sei, die man zivilisieren
mußte. Daß Hitler bis zum 31. August 1939 Frieden, aber
"die Polen ihren Krieg haben wollten" und ihn mit
Grenzprovokationen begannen, so daß Deutschland sich
verteidigen mußte. Daß in Polen in Konzentrationslagern
für Deutsche wahrscheinlich "fast 300.000" von ihnen
starben. Daß die deutschen Kriegsverluste 9-11
Millionen betrugen, von denen die "Mehrheit erst nach
dem Krieg umkam". Und auch daß "Deutschland heute kein
freies Land ist", sondern ein Staat "gesteuert durch
die Siegermächte und der von ihnen aufgezwungenen
führenden Klasse".
Gerhard Gruschka sagt: - Ich habe das Buch
durchgesehen, und die Haare standen mir zu Berge. Die
Geschichte des Lagers wurde für die Ziele der radikalen
Rechten manipuliert. Und das ist das Schlimmste für die
Erinnerung an Zgoda. Außerdem habe ich Jendryschik die
Verwendung meiner Aussagen untersagt. Und was hat er
gemacht? Er hat sie jemand anderem zugeschrieben.
Für den Verlag aus Viöl interessiert sich seit Jahren
der Verfassungsschutz des Landes Schleswig-Holstein. Im
allgemein zugänglichen Verfassungsschutzbericht für das
Jahr 1996 heißt es: "Im Angebot des
Roland-Bohlinger-Verlags fallen Bücher mit
antisemitischen und revisionistischen Inhalten auf
sowie Publikationen, die typische
Weltverschwörungstheorien enthalten. Es werden auch
Propagandaschriften herausgegeben, die zuerst im
Nationalsozialismus erschienen sind".
*
Zu Zgoda wurde Gerhard Gruschka 1994 durch ein Gericht
in Dortmund verhört (auf Bitten aus Kattowitz) und 1997
durch ein Gericht in Düsseldorf (auf Bitten der
Generalstaatsanwaltschaft in Warschau).
Er überlegt: - Ich möchte, daß jene Ereignisse
dokumentiert werden. Aber ein Prozeß? Ich fürchte, er
würde durch die falschen Leute ausgenutzt ... Mir liegt
nichts an einer Verurteilung Morels. Ich weiß, daß
einige das möchten und daß es in Polen eine
Untersuchung gibt, obwohl Morel 1994 von Kattowitz nach
Israel ausgereist ist.
Er sagt: - Woran mir am meisten läge ... das ist, wenn
Morel einfach sagen würde: Wissen Sie, was ich gemacht
habe, das war schlecht, heute sehe ich das anders. Das
würde genügen.
Er betont: - Ich könnte meinen Mithäftlingen sagen:
Hört zu, mein Kommandant hat zugegeben, daß das
schlecht war. Vielleicht könnte das ihre Haltung etwas
aufbrechen ...
Gerhard Gruschka hat in dieser Sache an Salomon Morel
geschrieben, als dieser noch in Kattowitz wohnte. Er
bemühte sich darum, den Brief nicht emotional werden zu
lassen. Er schrieb, er möchte nur wissen, was Morel
heute über das denkt, was er vor fünfzig Jahren gemacht
hat. Aber eine Antwort gab es nicht.
1996 bekam Gruschka Morels Telefonnummer in Israel in
die Hände.
Er rief an.
Er erinnert sich: - Seine Tochter, bei der er wohnte,
nahm ab. Sie fragte, wer dort sei. Ich antwortete, ein
Deutscher, der in Zgoda war. Sie hat ohne ein Wort
aufgelegt.
Epilog
Wenn Gerhard Gruschka heute mit dem Auto nach Rakau
fahren muß, dann nimmt er immer einen längeren Umweg,
über Baborow.
Er kennt ihn auswendig. Bis 1946 ging er ihn
schließlich Dutzende Male. Denn Baborow war die
Endstation der Eisenbahn, und weiter nach Rakau mußte
man zu Fuß gehen. Er ging also, manchmal allein,
manchmal mit seinem Vater. Der Weg wand sich auf eine
Anhöhe, und wenn sie sich dem Gipfel näherten, hob sich
am Horizont der Turmhelm der St. Nikolaus-Kirche ab.
Daher hatte er eine besondere Zuneigung zu dem Turm:
das war seine erste Begegnung mit seiner
"Ferienheimat", wie er sagt.
Heute, da der Helm auf den Turm zurückgekehrt ist,
bemüht er sich um Geld für die Erneuerung der
Kirchenfassade. Er möchte auch Mittel für
Heiligenfiguren sammeln, die einstmals im Giebeldreieck
standen.
Aber vor allem möchte er hierher zurückkehren.
Er möchte ein Haus kaufen und sich ansiedeln.
Vielleicht in Rakau, wo Verwandte wohnen, die der
Aussiedlung entgingen? Oder vielleicht in
Stolmütz/Tlustomosty, wo seine Mutter geboren wurde? Er
würde morgens über die Auen und an die Psyna gehen und
sonntags zur Kirche, in der er viele Male bei der Messe
gedient hat.
Die Menschen sind hier offener: sie feiern gemeinsam
und besuchen sich ohne Komplikationen. Gerhard Gruschka
stört, daß in Deutschland die zwischenmenschlichen
Beziehungen erkaltet sind, daß die Mehrheit in ihren
vier Wänden lebt. Ansonsten würde er dasselbe machen
wie in Deutschland: er würde seine Korrespondenz
führen, schreiben ("Ich schreibe für mich selbst, nur
für die Schublade"), reisen ("Meine Frau und ich haben
Europa, die USA, Kanada und Südafrika bereist, in Nepal
haben wir Trekking gemacht").
Aber bisher überlegt er noch. Und er sorgt sich etwas,
daß er kein Polnisch spricht. Aber sogleich tröstet er
sich, daß man sich irgendwie schon verständigt
("Niemals bin ich auf irgendeine Antipathie gestoßen" -
unterstreicht er). Er sorgt sich auch, daß die
medizinische Versorgung in Polen, wie man sagt, nicht
auf solch einem Niveau wie in Deutschland sei. Als
älterer Mensch achtet er darauf. Um so mehr als er seit
der Zeit der Appelle in Zgoda regelmäßig die Nieren
kontrollieren muß.
- Für mich wäre es kein Problem, Deutschland zu
verlassen. Ich bin dort nicht verwurzelt - sagt er.
Manchmal, wenn er in Schlesien ist, setzt sich Gerhard
Gruschka hinters Steuer, fährt über die Dörfer und
beobachtet die Veränderungen. Manchmal hält er auch das
Auto an, steigt aus und zieht gierig die Luft ein. Dann
sagt Gerhard, der Träumer: - Das ist das Paradies
meiner Kindheit!
Aber wenig später fügt Gerhard, der Rationalist,
hinzu: - Nein, ich betrachte das nicht als
"Kindheitsparadies". Das Paradies auf Erden gibt es
schließlich nicht.
- Aber - überlegt er weiter - danach, nachdem ich
vertrieben wurde, habe ich mich nie wieder so gefühlt
wie hier. Dann versöhnt er den Träumer mit dem
Rationalisten und stellt fest: - Je älter ich werde,
desto größere Sehnsucht habe ich.
Im Haus der Gruschkas in Deutschland steht Horst
Bieneks Buch "Reise in die Kindheit" im Regal. Bienek,
ein schlesischer Deutscher, stammte ebenfalls aus
Gleiwitz. Nach dem Krieg ausgesiedelt, wagte er erst
nach 42 Jahren, die Vaterstadt wieder zu besuchen.
In seinem zerlesenen Exemplar hat Gerhard Gruschka
folgenden Auszug unterstrichen: "Nein, man kann nicht
in das Land der Kindheit zurückkehren. Aber wir können
uns diese Kindheit vorstellen. Wir können sie
beschreiben und auf diese Weise festhalten. Ein
verlorenes Paradies ist das wirkliche Paradies, schrieb
Marcel Proust. Die verlorene Kindheit ist die
tatsächliche Kindheit. Sie besteht und wird bestehen,
solange wir sie erinnern".
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